Zur Vervollständigung Eurer Nataly von Eschstruth-Sammlung: "Sehnsucht" (EA: 1917, 317 Seiten), ein Roman aus dem Flieger-Milieu.
Spoiler:
»Sehnsucht ist eine Krankheit der Seele. Ein gesunder Geist muß sie nicht kennen. Er muß sich zu überwinden wissen, sich abgewöhnen, wie ein Kind zu verlangen, was er nicht erhalten kann. Deutsche Romantik hat die Sehnsucht als etwas Edles, der Sympathie aller gemütlichen Seelen Würdiges dargestellt — es ist etwas Falsches, Lähmendes, Krankes…« (Constanze in: Verschlungene Wege. Roman von Levin Schücking. 1867. Bd.3. S.179.)
Dieser Auffassung würde sich Nataly von Eschstruth gewiss nicht angeschlossen haben. Den Beweis liefert ihr Roman "Sehnsucht".
"Rote Rosen blühen und die Nachtigall schluchzt ein Lied von heißer Liebessehnsucht in den Myrtenzweigen." (Zwölftes Kapitel)
"Er lächelte und beobachtete als Kenner ihre holde Verlegenheit." (Zweites Kapitel)
Tja, der ungarische Graf, ein junger Reiteroffizier, und die jugendliche friesische Landpomeranze Ebba...
Mutter und Tochter "haben verschiedene Bücher gelesen, in welchen elegante, vornehme und galante Ausländer die Hauptrolle spielten, und nun wird die Erinnerung an diese Romanhelden [...] wieder wach, nimmt Form und Gestalt an und verkörpert sich in dem Grafen Lajos, welcher schon jetzt zum Ideal verklärt, die Phantasie erfüllt, als wirke eine Narkose!" (Zweites Kapitel)
Sollte Nataly hier etwa an ihre eigenen Romane denken, z.B. an "Polnisch Blut" mit seinem schnittigen jungen Helden? Verspottet sie etwa ihr eigenes früheres Romanpersonal? Oder hat sie schlicht vergessen, welche narkotischen Wirkungen sie diesem einst imprägnierte?
Es fällt auf, dass der sonst lebhafte Patriotismus der Erzählerin ("Hubert war Deutscher, sein Wunsch und seine Pflicht war es, in seinem Vaterland zu verbleiben, an Deutschlands Ruhm zu arbeiten." Zwölftes Kapitel) — anders als der von Ebbas Vaters — nicht so weit reicht, dem ungarischen Grafen vorzuwerfen, dass er sich Anno 70 der französischen Armee gegen Deutschland anschloss.
Aber der Hauptteil des Romans spielt ja auch — inzwischen eine Generation weiter — auf "dem modernen Feld der Ehre, dem Flugplatz"... (Neuntes Kapitel)
Wen wundert's da bei alledem, dass die weibliche Hauptfigur, eine Konzertsängerin aus reichem Haus, den Namen einer Zigarrenmarke trägt: "Grenadina", wie übrigens auch ihre Schwestern: Virginia, Cathedrala, Regalia, La Gira und Adelande? Immerhin ist der Vater "Teilhaber der ersten Tabakshäuser". "Wie originell, daß sie alle die Namen edler Zigarren tragen!" findet das der Sproß jener Liebe der friesischen Ebba und des ungarischen Kunstreiters Lajos, weiland Reiteroffizier, Graf Hubert Giöreczy, der angesagte Held auf "dem modernen Feld der Ehre". — Uff! Die Handlung tritt ja diesmal mächtig auf der Stelle! … Was soll’s! Die Leserin "gräbt die Zähne in die Lippen und neigt sinnend das schöne Haupt" (Zwölftes Kapitel), genau wie Hubert: "Will sie dennoch kommen, die süße, unheimliche Liebe?"
Liest man den Roman als Selbstkarikatur der Nataly von Eschstruth, so kommt man als heutiger Leser durchaus auf seine Kosten. Die Widmung an ihren "innig geliebten Sohn Desider von Knobelsdorf-Brenkenhoff, zur Erinnerung an seine Flugzeit in Johannistal und seinen schweren Absturz" macht aber sonnenklar, dass es der Autorin einmal wieder "vollster" Ernst ist. Und so betrachtet ist es wahrscheinlich das schwächste Werk, das sie je zu Papier gebracht hat. Das scheinen die Leser damals nicht so empfunden zu haben, denn das Exemplar der Vorlage gehörte bereits zum 26.-45. Tausend, — vielleicht aber die Setzer dieser Auflage? Deren äußere Gestalt nämlich kann man nur als total verwahrlost bezeichnen: von Lektorierung keine Spur (dem eBook wurde diese natürlich zuteil!). Es mag dies der Zeit der Entstehung und Erstveröffentlichung des Romans geschuldet sein: 1917, in der Endphase des Ersten Weltkriegs.
Textpräsenz qua OCR eines archive.org-PDF-Scans. Buchdeckeld der Vorlage (26.-45. Tausend).
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