03-03-2013, 12:14 PM | #196 |
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Um noch einmal klar zu machen wie komplex und oftmals unproduktiv die Konstruktion eines "Autorenwunsches" ist, habe ich nun noch zwei Beispiele ausgewählt.
Chaim Soutine: Soutine lebt drei Jahre in Céret und fertigt dort (schätzungsweise) 200 Gemälde an. Ein paar Jahre später ist der zuvor völlig verarmte Soutine ein gefeierter Künstler und bemüht sich darum, Gemälde aus der Céret-Periode zurückzuerweben und zu vernichten. Nebenbei vernichtet er aber auch noch aktuelle Werke, ein Plan ist kaum erkennbar. Oftmals verlangt Soutine sogar von Kaufinteressenten seine alten Werke für ihn zurückzuerwerben um sie vernichten zu können. Was soll der Kaufinteressent da nun tun, was ist da eigentlich der Künstlerwille? Soll der Interessent wirklich sechs Gemälde zusammenkaufen (ihr Marktwert steigt durch diese Massnahmen natürlich) und vor den Augen des misstrauischen Künstlers vernichten, nur um ein aktuelles Werk vor der Vernichtung zu bewahren? Denn je länger ein aktuelles Gemälde bei Soutine herumliegt, desto grösser ist die Gefahr, dass er es ebenso vernichtet. Franz Kafka: Kafka publiziert zu Lebzeiten vergleichsweise wenig, er war zu Lebzeiten als Autor völlig unbekannt und das entsprach auch offensichtlich seinem Wunsch und seinem Wesen. Testamentarisch verfügt Kafka die Vernichtung der unveröffentlichen Manuskripte, und dem wird nicht entsprochen. Tatsächlich wird Kafka - entgegen seines ausdrücklichen Wunsches - einer der wichtigsten und einflussreichsten Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts. Und es kommt noch schlimmer: In den veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen finden sich Kürzungen, um Kafka und noch lebende Beteiligte in ihrer Intim- und Privatsphäre zu schützen. Jede Kafka-Edition ist eine Missachtung des "Autorenwillens". Und dennoch gibt es dutzende Kafka-Forscher, die sich hinter diese Editionen stellen. Ein Künstler ändert seine Meinung, seine Ansichten und seine ästhetischen Vorlieben, seinen Stil und seinen Anspruch im Laufe seines Lebens. Das ist ganz normal. Man beachte nur, wie oft Karl May seine Auffasssung geändert hat, wie sein Werk "in Warheit" zu lesen und zu verstehen sei. - May ist natürlich in diesem Kontext nur ein lustiges Beispiel, denn er hat wie ein schelmischer Wirtshausbetrüger seine Ansichten sehr flexibel den jeweiligen Erfordernissen angepasst.. Es gibt eine ganze Vielzahl von Beispielen, die nicht so extrem und existentiell wie Kafka oder Soutine sind. Un- oder kaum bemerkte Änderungen durch den Autor in verschiedenen Auflagen, zum Beispiel. Da ein Mensch nun einmal seine Ansichten im Laufe seines Lebens ändert ist es nicht angemessen von einem Autorenwillen zu sprechen. Und selbst eine spezielle Buchausgabe muss keinesfalls dem Autorenwillen genügen, es können durch den Lektor, den Setzer, den Herausgeber oder den Drucker Änderungen vorgenommen worden sein, die mit dem Manuskript nichts zu tun haben. Ein Buch ist nun einmal kein Gemälde mit Echtheitszertifikat, zumindest nicht im Normalfall. Im Einzelfall kann ein Autorenwille ausgesprochen worden sein, wie im Falle Schopenhauers. Dennoch ist das nicht zwingend, denn ein 60-jähriger Denker hat kein Recht über Werke verfügend zu urteilen, die er als 20-jähriger veröffentlicht hat. Das muss der Leser selber entscheiden dürfen, wie er damit umgehen möchte. Last edited by medard; 03-03-2013 at 12:22 PM. |
03-03-2013, 02:09 PM | #197 |
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Du nennst das Thema selbst "komplex", Medard, und es kann dein Beitrag daher auch nur ein Schlaglicht auf die Tragweite bestimmter Entscheidungen werfen. Sicher bist du aber nicht der Auffassung, dass aus deinen Überlegungen die absolute Willkür eines Herausgebers abgeleitet werden könne. Es gibt hier jenseits der von dir genannten Beipiele sicher noch einiges am "Autorwillen" [der zwangsläufig eine Konstruktion sein muss], das zu respektieren wäre. Dazu kann bei einem Gedicht schon die Einrückung der letzten beiden Zeilen einer Strophe gehören u.ä. Der Herausgeber kann nicht willkürlich verfahren. Jeder Einzelfall muss gründlich im Kontext seiner Bedingungen geprüft werden.
Wir kommen hier immer wieder auf editorische Fragen zurück. Aber schließlich geht es ja auch um das Herausgeben von Büchern. Wie der Leser mit einem Text umgeht, obliegt natürlich ganz seinem Willen bis hin zur Willkür, ja zum schieren Missverständnis. Schließlich ist aus einer sog. produktiven Aneignung schon öfter viel interessantes Neues entstanden. |
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03-03-2013, 02:40 PM | #198 |
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Der Herausgeber hat natürlich darzulegen, welche Textfassung er mit welcher Begründung verwendet, und wo er in welchen Fällen und mit welcher Begründung Abweichungen davon vorgenommen hat. Jede seriöse Klassikerausgabe hat ein Nachwort oder einen Anmerkungsapparat in dem diese Fragen berührt werden.
Wenn ich begründe was ich tue, dann hat das nichts mit Willkür zu tun. Wem die Ausgabe mit ihren Editionsrichtlinien dann nicht gefällt, der kann sich ja eine andere nehmen. Es gibt zur Zeit mehrere aktuelle Goethe-Editionen die in wissenschaftlicher Konkurrenz zueinander stehen, zum Beispiel. Ich meinte mit dem letzten Satz meines vorangegangenen Beitrages keinesfalls eine willkürliche oder missverständliche Aneignung durch den Leser. Es kann im Einzellfall sein, dass ein Leser einer Textausgabe den Vorzug gibt, die vom Autor nach Jahrzehnten revidiert wurde, d.h. die der Autor in dieser Gestalt später als überholt betrachtet hat. Gerade im Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften ist das nicht selten anzutreffen. Das kann dann wissenschaftliche Gründe haben weshalb der Leser hier dem früheren Autorenwillen gegenüber einem späteren den Vorzug gibt; oder weniger wissenschaftliche, das ist doch auch egal.. |
03-03-2013, 03:03 PM | #199 | |
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Dein Buch würde ich in naher Zukunft noch nicht lesen. Aber wenn es gewinnt, dann ist es auch eine Ehre für unser himmlisches Reich. |
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03-03-2013, 04:26 PM | #200 |
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Ich habe nun ein wenig ein schlechtes Gewissen, denn das Buch ist doch sehr schön, aber Doitsus dahintersteckende Idee ist nun auf Diskussion gestossen.
Wenn man Lust auf Fraktur hat, dann soll man das ruhig machen. Ich würde vermutlich versuchen sie als künstlerisches Mittel der Jetztzeit zu betrachten, vermutlich würde ich sie auch eher bei Texten einsetzen, die mit Fraktur rein gar nichts zu tun haben. Weniger kann aber auch manchmal mehr sein, vielleicht ist Fraktur als gestalterisches Mittel bei Kapitelüberschriften viel interessanter als im Lesetext selber. Das wird man dann noch ausprobieren müssen. Gestaltungskünstlerische Dinge sind immer auch ein Experiment, bei dem das Gewünschte und das Notwendige aufeinandertreffen. Last edited by medard; 03-03-2013 at 04:30 PM. |
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03-04-2013, 01:51 PM | #201 | |
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Also kein Grund für ein schlechtes Gewissen... |
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03-05-2013, 01:40 PM | #202 | |
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03-05-2013, 01:46 PM | #203 | |
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Antwort zur Frage Nr.1: Darf ich nur eines enthüllen, nämlich AVG-Video-Game, ein bisschen Horror-Style. Antwort zur Frage Nr.2: Sein und Zeit. |
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03-05-2013, 02:02 PM | #204 | |
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Fraktur besteht nicht nur aus den merkwürdig geformten Buchstaben, die uns mangels Übung Schwierigkeiten bereiten. (Ich habe sie bereits als Grundschüler lesen gelernt. Nicht in der Schule, sondern mit alten Büchern der Eltern. - Und inzwischen wieder vergessen.) Da gibt es reichlich Ligaturen, d.h. mehrere Buchstaben verschmelzen zu einem eigenständigen Ganzen. Davon kennen wir heute halt nur noch das ß. Mit der Fraktur lassen sich Besonderheiten der Deutschen Rechtschreibung abbilden. Ich meine nicht die von vor der Rechtschreibreform, sondern noch ältere Formen der Rechtschreibung. Also aus Kaisers Zeiten, wie man zu sagen pflegt. Ein Beispiel: Wachstube Ist da die Wach-stube gemeint, oder die Wachs-tube? Im Satzzusammenhang ist es kein Problem das zu erkennen, aber nicht wenn das Wort solo daherkommt. Ich weiß das das Druckbild in Fraktur nicht identisch ist. Bei der Wach-stube nimmt man die st-Ligatur, und bei der Wachs-tube eben nicht. Damals haben die Leute das beim Lesen ganz unbewusst erfasst und hatten so mehr Informationen zur Verfügung. Also für den Kundigen eine Hilfe. So weit so gut. Das einzige Problem war, das Fraktur eine deutsche Insellösung war. Dasselbe mit den Schreibschriften wie Sütterlin etc. Bei der heutigen Globalisierung ist es richtig, dass Fraktur und Sütterlin nur noch historische Bedeutung haben. (Egal ob ein Treppenwitz der Geschichte oder echte Überlegungen zur Verwendung der Antiquaschriften geführt haben.) Ich würde Fraktur nicht in Ebooks verwenden. Ebooks sollen zwar textgetreu sein, und auch die Gestaltung möglichst am Original orientiert, aber man sollte es nicht mit einen Faximile verwechseln. Gruß, Faltradel |
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03-06-2013, 05:17 AM | #205 | |
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Alle Horror-Style-Gamer lieben Champignons ("We are the Champignons!"). Du darfst auch nicht die Dosen mit der Aufschrift "Dritte Wahl" kaufen, da könnte Pferdefleisch drin sein. Vielleicht magst du in Wirklichkeit bloß kein Pferd. - Bei Champagner gibt es diese Probleme zum Glück ("Glücklich ist ....") nicht. - Fröhliches Vergessen, lieber Spinni, wünscht Bruce |
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03-06-2013, 05:35 AM | #206 | |
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Es ist klar, dass du hier lediglich etwas verkürzt darstellst und diese Problematik natürlich mitgedacht hast. Aber genau diese Klippe ist sehr entscheidend: Woran bemisst sich die "Begründetheit", also die Stichhaltigkeit einer Begründung bei editorischem Handeln? |
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03-06-2013, 07:09 AM | #207 |
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An ihrer wissenschaftlichen Methode.
Faust für 2 Euro Faust für 10 Euro Faust für 16 Euro Da haben wir schon ein kleines Spektrum des Möglichen; einfach gestaltete Leseausgabe, vergleichender Paralleldruck verschiedener Entwurfsfassungen, akribisch kommentierte Studienausgabe. Wissenschaftliches Denken und Handeln sind das Gegenteil von Willkür. Wären Entscheidung willkürlich, dann wäre die Ausgabe nicht haltbar. Es gibt Beispiele für solche Ausgaben (Nietzsche, Hölderin). |
03-06-2013, 07:27 AM | #208 |
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... und all das setzt einen (wenigstens Minimal-) Konsens der Fachleute hinsichtlich diesbezüglicher Fragen voraus. Auch eine "wissenschaftliche Methode" existiert ja nicht als ideales Phänomen mit Ewigkeitswert, sondern sie muss im permanenten Diskurs beständig fortgeschrieben werden.
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03-06-2013, 08:02 AM | #209 |
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Das kommt auf die Methode an.
Die Wikisource-Methode muss das nicht, denn die ist recht simpel gesetzt aber dadurch auch sehr verlässlich und gut zu handhaben. Ich habe nun noch einen Text in einer historischen deutschen Übersetzung, aber das das Problem an der Sache ist dass der Ausgangstext aus dem heraus ins Deutsche übertragen wurde zur damaligen Zeit nicht vollstängig war. Er ist es heute auch nicht, aber er ist zumindest besser rekonstruiert. Da müsste man dann wirklich korrigierend in den Textkörper gehen. Das ist etwas was man vielleicht im Einzelfall mal macht. Das werden wir noch sehen was daraus wird. Vielleicht ist es auch sinnvoller dies als historisches Dokument zu betrachten und zu behandeln. |
03-06-2013, 08:36 AM | #210 | |
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Pferd!!!!!! Nein!!!!!!
Ich verabscheue Pferde. Ich habe gerade Equus gesehen. Orz! (╯-_-)╯╧╧ Quote:
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